Wohnen
Wohnen ist ein Prozess und entsteht aus einem komplexen Strom von Entscheidungen: Mit welchen Dingen umgeben wir uns? Was können wir uns leisten? Welche Bilder hängen wir an welche Wände? Was packen wir in Kisten und was in Schränke? Wie gehen wir mit dem gegebenen Raum um? Wer sind unsere Nachbarn? Welche Kompromisse machen wir mit den Mitbewohnern? Wann verändern wir etwas?
Wohnen erfordert beständig eine Reaktion auf veränderte Lebenssituationen: Hochzeiten und Todesfälle, Umzug und andere Umstände, Diaspora und Doppelhaushälfte. Sozialer Aufstieg und Abstieg, andere Stadt, anderes Land, anderer Partner, andere Partnerin, andere Mode bedeuten immer: anderes Wohnen. Auf die Frage: Should I stay or should I go? folgt unmittelbar: What stays or goes with me? Dass Immobilien ihren Namen aus dem Wortstamm unbeweglich haben, wird in diesen Momenten besonders deutlich. Diese Unbeweglichkeit bezieht sich nicht nur auf die uns umgebende Struktur, die G e h ä u s e, sondern auch auf die Vielzahl von Dingen, die das Wohnen erzeugen.
Die Minimalistinnen und Minimalisten unter den „Wohnern“ versuchen dieser Immobilität vorzubeugen und mit so wenigen Dingen wie möglich zu leben - „the 100 Things Challenge“. Kaum jemand, der nicht schon einmal davon träumte mit nur e i n e m Koffer neu anzufangen. Ganz einfach ist das nicht. Der Londoner Anthropologe Daniel Miller bringt es auf die Formel: „We may think we possess our homes, but our homes more likely possess us.“ (Home Possessions 2001, 238) Wohnen ist ein komplexes Geflecht aus Dingen, Gewohnheiten, Entscheidungen und ökonomischen Möglichkeiten. Wohnen ist ein Fluidum, das zur Gerinnung neigt. Es ist pragmatisches Gegenstandsmanagement und immer auch Kulisse für Vorstellungen und Träume. „Wohnst du noch oder lebst du schon?“, fragt das Möbelhaus Ikea und bildet in seinem Katalog nicht einfach Möbel ab, sondern bietet eine umfassende Darstellung des idealtypischen Wohnens und Lebens in der Spätmoderne. Glückliche Familien strahlen aus hellen Räumen, Singles strahlen aus multifunktionalen Appartements und Wohngemeinschaften strahlen aus improvisieren Partyzonen. Für Freunde der Vergemeinschaftung gibt es „10m2 Wohnzimmer, die mehr Zweisamkeit schaffen“, für Freunde der Besinnung und des Rückzugs das „gemütliche Nest, in dem jeder ganz für sich sein kann“. Wenn ein Umzug oder eine größere Wohnung nicht möglich sind, dann bekommen wenigstens die Kissen eine neue Farbe, denn „es geht darum kreativ zu sein, ein bisschen rebellisch vielleicht. Und darum, zu tun, wovon du träumst. Wenn du große Landhausküchen liebst, aber in einer kleinen Stadtwohnung lebst, musst du deinen Traum nicht gleich aufgeben. Sondern vielleicht nur ein wenig kleiner träumen.“
Das österreichische Wort für Immobilien ist Realitäten.
Petra Beck
Petra Beck ist Europäische Ethnologin und Kulturanthropologin. Sie hat Europäische Ethnologie, Kulturwissenschaft und Gender Studies an der Humboldt Universität zu Berlin studiert. Ihre Magisterarbeit „Restopia. Selfstorage als urbane Praxis“ untersucht die materielle Seite urbaner Entwicklung und die Beziehungen zwischen Menschen, Dingen und Biographien anhand einer Forschung in 14 deutschen Selfstorage-Häusern. Die Arbeit wurde mit dem Georg-Simmel-Preis für Stadtforschung 2013 ausgezeichnet.
Zur Zeit ist Petra Beck Lehrbeauftragte an der Humboldt Universität zu Berlin.